Fotofinish beim Zieleinlauf 1994

Lauf und Wahn
Frankfurt-Marathon

Die Geschichte vom Frankfurt- Marathon ist wechselhaft. Begonnen hatte alles 1981 mit dem Höchst-Marathon, mit Start und Ziel in F-Höchst und einem Mittelteil quer durch das Zentrum mit dem Römer und der Alten Oper.

Das Ende kam 1985 als der Chemiegigant HOECHST es für medienwirksamer ansah, die Fußballmannschaft von EINTRACHT FRANKFURT zu unterstützen, als für den Marathonlauf Geld zu geben.

So wurde der Lauf ab 1987 von der Stadt Frankfurt übernommen, mit geänderter Streckenführung: vom Zentrum über die Peripherie zurück ins Zentrum. Geändert hat sich auch die Philosophie: Weg von der Chemie, weg von Ex-und-Hopp, hin zu einem verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt. Beispiele: Kein Plastik-Geschirr, Trinkbecher aus kompostierbarer Pappe. Gerichte aus heimischer Produktion, wie Pellkartoffeln mit Kräuterquark (auf Porzellantellern!).

Unbedingt erwähnens- und nachahmenswert auch die Möglichkeit der preiswerten Übernachtung im eigenen Schlafsack in einer städtischen Sporthalle. Hier schwebt abends ein richtiger Hauch von Biwak-Atmosphäre, wenn die aus Osteuropa angereisten Sportler die mitgebrachten Dauerwürste auspacken und ihren Tee zubereiteten.

Nachdem unter städtischer Regie eine gewisse Stagnation eingekehrt war, haben nunmehr die Spaßmacher das Ruder übernommen und bieten unter dem Motto "run-skate-fun" von allem etwas.

Die Strecke ist eine Mischung zwischen Manhattan, Alt-Heidelberg und Düsseldorf-Garath; gleichzeitig ein Ausflug in 1200 Jahre europäische Geschichte: vorbei an Römer und Dom, von 1562-1806 Krönungsstätte deutscher Kaiser; die Paulskirche, von 1848 bis 1849 Sitz der ersten demokratischen Nationalversammlung; die Geburtshäuser von Goethe und Anne Frank; die Börse unweit der Hauptwache, die Alte Oper mit der Inschrift:

DEM WAHREN SCHOENEN GUTEN

Und es gibt - besonders in Bockenheim und Sachsenhausen - jede Menge typischer Ebbelwoi-Kneipen, wo man zu Rippchen oder Handkäs mit Musigg das Nationalgetränk der Hessen genießen kann.

Kenner erkennt man daran, dass sie das Stöffche pur aus dem Bembel trinken. Anfänger bevorzugen oft die süß gespritzte Variante, indem sie verstohlen eine Limonade hineinmischen.. Bekömmlicher ist auf jeden Fall der mit Wasser verdünnte "Sauergespritzte". Und wer unter Verstopfungsproblemen leidet, sollte vielleicht einmal den jungen, noch nicht ganz durch gegorenen Eppelwoi probieren, den "Hoseschisser", wie er von den Einheimischen genannt wird.

Beenden wir diesen marathonischen Exkurs, indem wir zu den Anfängen zurückkehren, dem legendären Höchst-Marathon. Der Schriftsteller Günter Herburger war dabei und beschreibt mit den Stilmitteln des Literaten seine Erlebnisse.Titelbild Lauf und Wahn

Leseprobe aus dem Buch LAUF UND WAHN

von Günter Herburger:
"Am Tag vorher verschiedene Treffen zu Fragen der Medizin, der Schuhe, Orthopädie und Ernährung in der Höchster Jahrhunderthalle; Teilnahme an der leisesten Stunde, der zur Psychologie des Laufens.

Niemand dachte daran, ob durch mentales Versenken das Ziel schneller erreicht werden könne. Alle, die zögernd, in dieser Öffentlichkeit eine Mutfrage, zu sprechen begannen, meinten, sie liefen aus Gesundheitsgründen, doch insgeheim gestanden sie durch Verhältniswörter ein, dass sie über Ängste, Pflichten sprachen.

Die Männer wollten dem Arbeitsdruck durch Training entfliehen und zwar allein, dagegen verkündeten die Frauen, sie gönnten sich Auslauf, lernten Gleichgesinnte kennen, fühlten sich wertvoller.

Den Meisten war die tägliche Arbeit sinnlos geworden, jedoch freiwillige Plage, Knochen-, Lungen- und Schweißarbeit wurde zur Sinnsuche erhoben. (...)

Nach dem Start drängten sich Tausende durch die Gassen der Chemie-Stadt Höchst, wollten für Stunden dem Unrat entfliehen. Die Straßen wurden breiter, die Tempi verschärften sich, der Himmel war dunstig bezogen mit schwülem Niederdruck.

Draußen kleine Häuser, dazwischen Betonriesen, manchmal hörten wir das Rauschen einer Autobahn, die hinter einer grün bemalten Schutzwand asparagushaft sich verzweigte.

Gezählt auf der ersten Streckenhälfte: 11 Getränkemärkte, 8 Tankstellen, 9 Reinigungen, 3 Tierheime, 2 Kirchen, 2 Spielplätze, 7 cash-and carry- Läden, 1 amerikanisches Soldatenkino, oftmals Imbisstuben.

Es rannten Meuten Verrückter um Heil...Es rannten Meuten Verrückter um Heil, Beweis kurzfristiger Einzigartigkeit, damit das betäubend Gewöhnliche sich teile. Allein sich einmal der Straßen bemächtigen zu dürfen, die das ganze Jahr über Verkehr beherrschte, erzeugte Frieden.

Stimmten die Scharen für Aneignung der Produktionsmittel oder für Führerschaft, froh, dass es so etwas wieder gab?

An Mauern prangten, wie überall im Land, aufgesprühte Parolen. Nach einer nördlichen Schleife durch Bockenheim, Einlauf in die Innenstadt, ins Herz der Börsen, Geldverteiler.

Bröckelndes Westend-Viertel, wo früher reichere Juden-Familien wohnten, darüber erhoben sich jetzt die eleganten Zwillingstürme aus Schalglas der Deutschen Bank. (...)

Die Hitze nahm zu; in einer Lücke in der Wolkendecke zeigte sich die Sonne, deren Strahlen gleich polarisiertem Licht nochmals niederschossen aus der Spiegelschräge eines Wolkenkratzers.

In Leserbriefen hatten sich Anwohner beklagt, dass sie tagsüber dunkle Brillen tragen müssten, und selbst nachts blitzte von ihrem verglasten Gegenüber der Mond wie ein Kugellaser durch Vorhänge, Jalousien. (...)

Bei Kilometer 25 auf der Kaimauerstraße am Main Blick zur Brücke, die Max Beckmann 1922 gemalt hatte: Der Eiserne Steg.

Gemalt hatte Beckmann auch einen Frankfurter Platz, in violett mit Katze und schiefer Synagoge, und immer wieder Gefesselte, Verschnürte, die ihre Köpfe abwandten, gelbe Ränder besaßen, mit dem Leib eines erfrorenen Fischs dazwischen.

Versteckt auf einem Speicher in Amsterdam, malte Beckmann im Krieg an Frankfurt, dem Nabel Mitteleuropas, weiter. (...)

Im Außenort Niederrad gesteigerter Applaus, als wir uns unter einem restaurierten Fürstenbalkon hindurchzwängten; Kapellen spielten im Wettstreit mit Volksmusik.

Die Gehölze des Stadtwalds begannen, Pfade und Furten waren geteert, im Land des Reinigungszwangs, der stummen Seelen, durfte es keine Unübersichtlichkeit geben: Die Toten, die Toten, sie könnten sich sonst wieder erheben.( ...)

Vor dem Anstieg zur letzten Brücke, ich erkannte nicht mehr, ob sie über eine Straße, einen Kanal über eine Startbahn für Militärcharter führte, ließ ich mir die Schenkel massieren.

In der Vorauszeitung für diesen Tag war zu lesen, dass es 300 Tische, 300 Bänke, 300 Streckenschilder, 5oo Feuerwehrleute, doppelt so viel Polizisten, 1oo ooo Becher Getränke, 50 000 Plastikfläschchen Wander-Elektrolyse gegeben hatte, dann am Schluss umgehängt, 8000 Medaillen, etwa die Teilnehmerzahl. (...)

Nach allerlei Kälterennen hatte ich endlich Wärme gehabt. Durst, Konzentration, auch Massage. (...)

Zuerst Banane. Bier später, damit die Hormonflut nicht unterbrochen wurde.

Auf einer Bank der nächsten S-Bahn-Station saß ein rothaariger, junger Mann. Er hatte zum ersten Mal einen Marathon bestanden, weinte langsam, weil es, kaum vorstellbar, ihm gelungen war, die Strecke zu bewältigen. Neid, denn nie mehr würde ich wie er erleben, einen Nachmittag bis in die Nacht hinein gleich Jesus und Maria zu sein, schwebend über Geleisen und Gewässern."