Als im Januar 1945 die russischen Armeen die Oder überschreiten und die ersten Flüchtlingstrecks an uns vorbeiziehen, stellen wir uns die Frage, ob wir in unserem Heimatdörfchen noch sicher sind? Zwar ist der NSDAP-Ortsgruppenleiter der Meinung, dass kein Grund zur Unruhe bestehe. Wortwörtlich erklärt er: "Die Front rückt nicht näher. Die Russen sind gestoppt."
Doch an solche Parolen glaubt mittlerweile kein Mensch mehr und so holen wir noch am selben Tag unseren kleinen Kastenwagen aus der Scheune und bepacken ihn mit dem nötigsten: Schuhe, Lebensmittel, ein Kochtopf, Besteck für 3 Personen. Nicht zu vergessen: Papiere, Geld, Sparkassenbücher und etwas Schmuck. Obendrauf kommen 3 Federbetten, eine Plane zum Abdecken und zwei Fahrräder.
Am 9.2. wird bekannt gegeben, dass unser Dorf am nächsten Tag um 15 Uhr geräumt werden muss.
Die letzte Nacht zu Hause ist wie ein Alptraum.
Es ist, als ob ein Gewitter aufzieht, der Himmel von zuckenden Blitzen erhellt wird und das Donnergrollen immer näher kommt.
Wir überstehen die Nacht schlaflos und werden sie niemals vergessen.
Am nächsten Morgen bringen wir unseren Wagen zum Nachbarn WIBERSINSKY, um ihn an deren Ochsengespann hinten anzukoppeln.
Am Nachmittag verlassen wir Oberschönfeld und stiefeln auf der Landstraße Richtung Bunzlau. Der Schnee knirscht unter unseren Füßen. Bei Einbruch der Dunkelheit sind wir im Klitschdorfer Wald, der wie ein Gespensterwald wirkt. Ob wir jemals hier herauskommen? Als die Morgendämmerung einsetzt, sind die Ochsen bereits völlig durchgelaufen und hinterlassen tiefe Blutspuren im Schnee. Mit Mühe erreichen wir Tiefenfurt gegen 9 Uhr und müssen uns hier schweren Herzens von WIBERSINSKY‘s trennen, da deren Ochsen durch den Gewaltmarsch am Ende sind und unbedingt eine Ruhepause benötigen.
Alleine schlagen wir uns bis Langenau durch und wären vor Erschöpfung unterwegs liegen geblieben, wenn uns nicht ein Trupp Soldaten beim Schieben
unseres Handwagens geholfen hätte. In Langenau können wir für ein paar Tage verschnaufen, bis ein neuer Treck zusammen gestellt ist.
Hier erreicht uns am 15.Februar die Nachricht, dass in der Nacht zuvor Dresden bombardiert wurde.
Das Grauen dieses Angriffs können wir uns nicht vorstellen.
16.2. Wir betrachten den blutroten Abendhimmel : höchste Zeit, um am nächsten Morgen aufzubrechen.
Weiter geht es über Rengersdorf und Weißenberg.
21.2. Das Wetter schlägt um. Es regnet und stürmt. Die Stimmung ist mies.
26.2. Wir umfahren Dresden und überqueren die Elbe südlich von Meißen.
28.2. Bei der Abfahrt von Limburg wird unser Treck geteilt, um auf den mit Flüchtlingen voll gestopften Straßen besser voranzukommen.
Draußen tobt ein entsetzlicher Schneesturm.
4.3. Fliegeralarm. Alle umliegenden Orte werden aus der Luft angegriffen.
Der Himmel ist von Bränden erleuchtet, dazwischen dicke, schwarze Qualmwolken.
7.3. In Frankenberg geht nichts mehr. Die Stadt ist total überfüllt. Inzwischen fängt es an zu tauen, die Straßen werden glatt. Im Dunkeln müssen wir weiter bis Oberschöna.
13.3. Es ist nebelig. Bei Oederan fahren wir einen Tag im Kreis. Am Ende sind wir wieder in Oberschöna gelandet. Das Durcheinander ist komplett. Bauer ENDIG, von dem wir uns am frühen Morgen verabschiedet haben, wundert sich, dass wir bereits am späten Nachmittag wieder auf dem Hof erscheinen. Niemand hat mit einem so schnellen Wiedersehen gerechnet. Wir werden ins Haus gebeten und erhalten heißen Tee und Butterbrote. Da das Kriegsende in Sicht ist, macht Bauer ENDIG den Vorschlag, hier zubleiben und abzuwarten. Wir sind alle der Meinung, dass dies das Beste sei.
4.4. Bei einer Fahrradtour in das benachbarte Freiberg will ich zusammen mit zwei Freundinnen ein paar Sachen organisieren.
Auf der Fahrt werden wir von Tieffliegern angegriffen. Im letzten Moment können wir uns in den Straßengraben werfen und hören unmittelbar neben uns
die Einschüsse. Kreidebleich, dreckbespritzt und triefend nass rappeln wir uns hoch und umarmen uns vor Freude, denn uns ist nichts passiert.
8.5. Der Krieg ist zu Ende. Auf der Straße ein fürchterlicher Lärm. Ein Fahrzeug reiht sich an das andere. Die Russen ziehen ein.
Am Abend brennt ein Hof am anderen Ende der Straße. Dies wäre die Strafe, weil der Hofbesitzer seine ausländischen Arbeiter so schlecht behandelt habe. Eigentlich sollte der Bauer aufgehängt und mit verbrannt werden, aber das "Schwein" habe sich im letzten Moment absetzen können. Dafür muss am nächsten Tag ein vierbeiniges Schwein aus dem Stall von Bauer ENDIG dran glauben. Es wird schwarz geschlachtet aus Angst vor einer eventuellen Beschlagnahme.
Die Schinken kommen in die Räucherkammer, die mit Sägespänen angeheizt wird.
Die Rippenstücke werden als Koteletts sofort verzehrt, die mageren Bauchstücke eingeweckt, die Fetteren mit der Leber in die Leberwurst.
Zwei Weißbrote mischen wir unter das Blut und machen Blutwurst.
Alles gut gewürzt und abgeschmeckt füllen wir mitHilfe einer Presse in die sauber gewaschenen Därme vom Schwein.
Der Kopf wird zu Sülze verarbeitet. Beine und Pfoten werden mit Salz eingerieben und zum Pökeln in Bunzlauer Tontöpfe geschichtet.
Bei dem guten Essen erwacht der Mut zum Zupacken wieder und die Hoffnung auf eine baldige Rückkehr in die Heimat.
14 JUN 45: Endlich können wir die Rückreise antreten. Von draußen dringen schlechte Nachrichten zu uns. Bei ENDIGs waren wir bislang sicher aufgehoben. Welches Schicksal wird uns in der Heimat erwarten?
Zusammen mit ca. 10 anderen Familien - davon 5 mit Ochsengespannen - machen wir uns auf den Weg. Die Straßen sind in einem erbärmlichen Zustand. Wertsachen wie Uhren und Fahrräder müssen wir nicht lange mit uns herumschleppen. Sie werden bereits im nächsten Dorf von einer russischen Militärpatrouille konfisziert.
Anfang Juli erreichen wir Girbirgsdorf bei Görlitz und erfahren, dass die Grenze geschlossen ist. In der Feldscheune von einem Gutshof richten wir uns provisorisch ein, um die Lage zu peilen.
Vater werden gleich am ersten Tag die guten Schuhe entwendet. Tante Selma wird beim Kochen in der Gutsküche das Fleisch aus der Pfanne gestohlen. Wer noch einigermaßen fit ist, wird zur Zwangsarbeit auf den Feldern verpflichtet.
Dick und fett sind unter diesen Verhältnissen nur die Wanzen, die nachts von der Decke fallen. Von Einer werde ich gebissen, bekomme einen dicken Fuß und bin mehrere Tage arbeitsunfähig.
Ende Juli 1945 beschließen wir die geschlossene Grenze "bei Nacht und Nebel" zu passieren. Um nicht aufzufallen, teilen wir uns in mehrere Gruppen auf: die BURGER Liesel, meine Mutter und ich wagen den ersten Versuch.
Mit wenig Gepäck machen wir uns um Mitternacht auf den Weg. Da der Viadukt zerstört ist und kein Zug über die Neiße fahren kann, werden wir zunächst von einem Schlepper für 100 Mark auf die polnische Seite geschleust. Am Bahnhof verstecken wir uns in einem Güterwagen und warten eine Ewigkeit, bis der Zug sich endlich gen Osten in Bewegung setzt. Wo wir wohl landen werden?
Nach einem längeren Zwischenaufenthalt in Kohlfurt kommt der Zug am nächsten Bahnhof zum Stehen. Wir hören deutlich, wie ein Bahnbeamter Boleslawiec (Bunzlau) ruft. Das ist für uns das Signal, um auf der verkehrten Seite heimlich auszusteigen. Niemand bemerkt uns und wir schleichen hinter dem Zug davon.
Nun geht es im Laufschritt über die Alte Straße in unser Heimatdorf Ober-Schönfeld. Schon von weitem erkennen wir unser weiß gestrichenes Haus. Es steht noch, um uns herum aber auch viele Ruinen.
Als wir durch die Haustür treten, die von 29 Einschüssen verziert ist, reiben wir uns die Augen: die Zimmer leer geräumt, total verschmutzt und die Dielen im Wohnzimmer teilweise verfeuert. Und was nicht durch den Ofen gewandert war, wurde aus dem Fenster geworfen und liegt als Trümmerhaufen im Vorgarten.
Da nichts Essbares zu finden ist, holen wir uns aus dem Garten etwas Rhabarber. Einen verbeulten Topf und ein paar verbogene Löffel finden wir in dem Dreckhaufen vor dem Küchenfenster.
Plötzlich geht die Haustür auf und ein junger Pole namens Nico begrüßt uns in perfektem Deutsch. Er wohnt mit seiner Familie - Vater, Mutter und zwei jüngere Schwestern - nebenan im Haus von SCHADE Ewald.
Seine freundliche Einladung zum Essen nehmen wir gerne an. So erfahren wir, dass die Familie den Naziüberfall auf Polen als so genannte "Volksdeutsche" überlebt hat. Und nach dem Krieg sind sie halt in Ober-Schönfeld gelandet. Nicos Vater ist z. Z. Bürgermeister und so sind wir genau an der richtigen Adresse.
Auf einer Schubkarre bringt Nico uns Decken und Matratzen, die wir gerne annehmen. Die nächsten Tage bringen wir mit dem Abstoppeln der Felder zu: Reste von Roggen und Weizen, sowie Kartoffeln mit Sauerampfer, dazu ein paar Wiesenkräuter als Tee.
Um Kochgeschirr und Möbel zu organisieren, sehen wir uns in der Nachbarschaft um. TESKE, MÜLLER, DEZELSKY, KOBELT Robert und Dr.DANKWART gibt es nicht mehr. Auch bei WIBERSINSKY finden wir nichts. Schließlich entdecken wir im Schloss unser ehemaliges Sofa und jede Menge Küchengeschirr. Wir nehmen mit, was wir tragen können.
Die Häuser von SCHADE Paul. WINDE, RÖNSCH Gustav, KRUPPA, STEINBRECHER und BEYER Paul sind allesamt Ruinen. Der Frisiersalon von GÖTHERT ist zwischenzeitlich zum Kuhstall umfunktioniert.
Als wir am Haus von SCHADE Ewald vorbeikommen, wo z.Z. der Bürgermeister untergebracht ist, macht die Putzfrau gerade Feierabend. Es ist Frau POHL, eine Verwandte zweiten Grades, die mit zwei Kindern in dem alten Ausgedingehaus der Scholzmühle wohnt.
Sie erzählt uns, dass der Nachbarort Neundorf bereits von Polen besiedelt ist und dass meine Großmutter Pauline BAUMANN, trotz ihrer 77 Jahre, tüchtig arbeiten muss.
Gleich am nächsten Tag werden wir sie besuchen. Meine Großmutter ist so glücklich, mich wieder zu sehen, dass sie nicht mehr daran denkt, weiter zu arbeiten. Ich erfahre, dass Tante Anni, die jüngste Schwester meiner Mutter und gelernte Schneiderin als Näherin in Nieder-Schönfeld beschäftigt ist. Ihr Bruder Paul, der den Hof bewirtschaftete, wurde in ein Bleibergwerk nach Sibirien verschleppt, wo er verstorben ist.
Kurz danach wird unser Gespräch abrupt beendet und ich werde aus dem Haus geworfen, weil ich die Arbeitsdisziplin störe.
Der Heimweg gestaltet sich schwieriger als erwartet, weil ich von einem Soldaten verfolgt werde,
dessen eindeutige Absichten nur durch beherzte Flucht abgewehrt werden können.
Mit viel Glück erreiche ich unsere Wohnung. Doch noch glücklicher sind wir, als nach einigen Tagen zwei wohlbekannte Männer auf unser Haus zulaufen: mein Vater Bruno RÖNSCH und Herr BURGER. Sie hatten einfach keine Ruhe mehr, weil von uns kein Lebenszeichen kam und haben sich halt durchgeschlagen wie wir: d.h. schwarz über die Grenze und als blinde Passagiere im Zug bis Bunzlau.
Nico, der Nachbarssohn, hat sofort alles registriert und lädt uns zum Kaffee ein. Mein Vater, als gelernter Maurer, wird für Reparaturarbeiten eingespannt. Als Entlohnung gibt es für ihn volle Kost und für uns eine Kanne Milch und ein Brot.
Später wird mein Vater Schuldiener in Nieder-Schönfeld und muss - da der Winter vor der Tür steht - Holz hacken und die Öfen heizen.
Die kleine Hanna - Tochter des Bürgermeisters - fragt mich eines Tages, ob ich stricken könne.
Sie wünscht sich eine Kleid aus Wolle. Wir entwerfen ein Modell und dann beginnt die Arbeit.
Das Kleid wird das schönste Weihnachtsgeschenk und sie verspricht, immer an mich zu denken.
Ansonsten sind die Festtage 1945 eher traurig. Mein Vater klagt über Bauchschmerzen und bekommt hohes Fieber. Der herbeigerufene russische Militärarzt diagnostiziert "Typhus" und befestigt ein großes Plakat an der Haustür. Zumindest klopft jetzt kein Soldat mehr an unsere Haustür.
Dafür klopft jeden Tag Frau KÄSER bei uns an und bringt meinem Vater frisches Brot aus der Mühle. 9 Tage ist mein Vater ohne Besinnung, kann aber nach 4 Wochen wieder aufstehen und fühlt sich danach wie neugeboren.
Anfang März 1946 wird Schönfeld mit polnischen Familien besiedelt, die aus der Lemberger Gegend kommen. Bei uns zieht ein Ehepaar ein, beide Ende 40, sowie die Schwester der Frau, etwa 30 Jahre alt.
Sie haben ein schweres Schicksal hinter sich. Der einzige Sohn wurde bei Kriegsende getötet.
Aus ihren Häusern wurden sie vertrieben und konnten so gut wie nichts mitnehmen.
Ihr wertvollster Besitz ist eine Kuh, die von der örtlichen Bürgermeisterei zugeteilt wird. Die Kuh wird im Stall abgestellt und dieser wird anschließend wie eine Schatzkammer verriegelt und verrammelt, damit das gute Stück nicht entwendet wird.
Eines Tages taucht der NELKE Herbert auf und bringt einen Beutel Post mit, der ihm von einer Sammelstelle in Berlin übergeben worden war. Für uns ist ein Brief von meinem Bruder Fritz dabei: das erste Lebenszeichen.
Fritz war bei Kriegsende in Dänemark in Gefangenschaft gekommen und von dort als Landwirtschaftshelfer nach Schleswig-Holstein entlassen. Jetzt arbeite er in Kiel in einem Architekturbüro.
Auch meine Freundin Alice MÜLLER bekommt Post von ihrem Mann aus der britischen Besatzungszone und wäre am liebsten sofort aufgebrochen.
Teil 3: Von Oberschönfeld nach Kiel
Ende März 1946 hören wir, dass in Kürze alle Deutschen ausgewiesen werden sollen, bis auf junge Mädchen. Die kämen in die Sowjetunion und sollten dort für die Wiedergutmachung arbeiten. Das ist für mich und meine Freundin Alice das Signal zum Aufbruch.
Vom Pfarrer besorgen wir uns ein amtliches Dokument mit Stempel und in polnischer Sprache. Ein paar Habseligkeiten kommen in einen Handkoffer. Die Zlotis für die Fahrkarte zur Grenze werden von den Nachbarn zusammen geborgt. Vom Chef der Mühle lassen wir uns im Kastenwagen versteckt zum Bahnhof nach Thomaswaldau schmuggeln.
Beim Warten auf den Zug werden wir von einem Polizisten aus Nieder-Schönfeld erkannt. Doch wir haben Glück. Er drückt beide Augen zu.
Der Zug ist so voll, dass wir uns wie Ölsardinen in der Dose vorkommen. Bei der Fahrscheinkontrolle will der Schaffner einen Zuschlag für unser Handgepäck kassieren, doch wir haben keinen einzigen Zloti mehr. Ein junger Pole, der in Kohlfurt bei der Passkontrolle arbeitet, hilft uns aus der Bedrouille, indem er uns als seine Cousinen ausgibt und das Zusatzticket bezahlt. Wir nicken voller Dankbarkeit, wagen aber nichts zu sagen, um nicht aufzufallen. Meinen Lippen entringt sich nur das Wort "dzienkuje" (=danke).
Später in Kohlfurt hilft uns dieser junge Mann beim Ausstellen von zwei Passierscheinen und gibt uns den entscheidenden Tipp, um den richtigen Zug zu finden. Nach der Gepäckkontrolle und Entlausung heißt es auf dem Bahnsteig warten.
Den ersten Zug, der uns nur bis Berlin gebracht hätte, lassen wir passieren. Erst der zweite Zug am späten Nachmittag ist der Richtige. Obwohl alle Waggons bereits mit Menschen voll gepfercht sind, zwängen wir uns noch irgendwie dazwischen. Wohin wir fahren, können wir nicht sehen, da Viehwagen keine Fenster haben.
Am nächsten Morgen haben wir unser Ziel erreicht und befinden uns im Flüchtlingslager Friedland im Landkreis Göttingen. Zu Mittag gibt es eine warme Suppe (ohne Fettaugen) und ein Stück Brot.
Gleich am nächsten Tag werden wir auf Wanderschaft geschickt. Unsere Gruppe kommt nach Kalkriese an der Hase, Kreis Bramsche / Niedersachsen. Der Bürgermeister nimmt uns in Empfang und verteilt uns auf verschiedene Bauernhöfe.
Während unsere Leidensgenossen alle unterkommen, stehen wir bei Nieselregen vor der Tür und werden nicht hineingelassen. Erst die herbeigerufene Polizei zwingt die Bäuerin, uns aufzunehmen. Die zugewiesene Kammer ist das Allerletzte.
Am nächsten Morgen bekommen wir nach einem kargen Frühstück mitgeteilt, dass es ein Mittagessen nur für diejenigen gibt, die zum Torfstechen gehen. Alice wagt nicht "nein" zu sagen. Ich dagegen bin es leid, wie der letzte Abschaum behandelt zu werden und stelle mich krank.
Nachdem die Torfstecher abgezogen sind, gehe ich mit einem Kartenspiel zu den Nachbarn, um aus den Karten die Zukunft vorherzusagen. Im Gespräch mit der Bäuerin erfahre ich, dass ihr Mann noch nicht aus dem Krieg heimgekehrt sei. Als dann beim Auslegen der Karten der Herzbube dicht bei der Herzdame liegt, erzähle ich der Bäuerin, dass ihr Mann nicht weit von ihr entfernt sei und in kurzer Zeit nach Hause käme. Tatsächlich wird er auch eine Woche später eintreffen und ich kann ihn noch vor meiner Abreise begrüßen.
Nun erkundige ich mich nach den nächsten und übernächsten Nachbarn, denn Wissen ist Macht, besonders bei einer Wahrsagerin.
Gute Nachrichten hört jeder gern und so bekomme ich neben einem guten Mittagessen noch ein Paket Wurstbrote für den Heimweg und Briefmarken sowie Briefpapier, so dass ich abends an meinen Bruder Fritz und Alice an ihren Mann schreiben kann.
Alice wird bereits 3 Tage später abgeholt, während ich noch 2 Wochen warten muss, bis ich von Fritz eine Zuzugsgenehmigung für Kiel erhalte. Die restliche Zeit in Kalkriese nutze ich so gut es geht mit "Kartenlegen". Das Wahrsagen entpuppt sich als einträgliches Geschäft, besonders wenn sich gewisse Erfolgsmeldungen herumsprechen.
Ich bekomme einen Sack Kartoffeln, Speck, Eier, Mettwurst, Käse und Butter. Außer den Eiern kommt alles in eine große Kiste, die als Flüchtlingsgut deklariert wird und zusammen mit mir die Reise nach Norden antritt. In Kiel angekommen staunt Fritz nicht schlecht über die mitgebrachten Leckereien.
Um etwas zum Lebensunterhalt beizusteuern, stricke ich Pullover für eine Strickerei. Die Wolle wird vor und nach dem Stricken von dem Betrieb genau abgewogen, damit nichts "versickert". Doch wenn man die Pullover vor der Abgabe mit Wasserdampf "beschwert", kann dennoch etwas Wolle für den Eigenbedarf abgezweigt werden.
Im Juli 1946 erhalten wir einen Brief von meinen Eltern. Sie wurden mittlerweile von den Polen ausgewiesen und sind von einer Sammelstelle in Bunzlau über das Lager Friedland jetzt in Elze bei Hannover gelandet. Ich setze mich in den Zug und fahre nach Elze, um meine Eltern abzuholen und bei der Gelegenheit, meine Freundin Alice noch einmal wieder zu sehen.
Mein Bruder ersteht in einem ausgebombten Haus in Kiel-Gaarden eine stehen gebliebene Küche mit Flur und einem kleinen Zimmer. Der Rest der Wohnung war den Bomben zum Opfer gefallen.
Für meinen Vater wird eine Maurerkelle sowie etwas Zement organisiert. Mit tatkräftiger Unterstützung der ganzen Familie sind in ein paar Wochen die Mauern und Decken fertig und bis zum Winter die komplette Wohnung, einschließlich einem eisernen Ofen. Ein wenig Feuerung gibt es auf Bezugsschein, wie viele andere Sachen auch.
Das ist das Ende unserer Odyssee. Wenn mir noch ein paar Jahre zu leben bleiben, werde ich anschließend den Start in der neuen Heimat für die Nachwelt niederschreiben.
Erika Reble, 6 DEZ 1999;
gekürzt und für die Familienchronik überarbeitet
von Sohn Bruno im JAN 2000.
Nächstes Kapitel... Wiederaufbau aus Ruinen