Nicht bei Adam und Eva soll diese Familienchronik beginnen, sondern bei Adam und Anna, geboren 1717 und 1720 in Eutingen bei Pforzheim.
Viel ist es nicht, was wir über die beiden wissen, im Gegensatz zu anderen Personen im Zeitalter des Barock. Zum Beispiel die Deutsche Kaiserin, Maria Theresia, die ebenfalls 1717 das Licht der Welt erblickt oder - fünf Jahre zuvor - Friedrich II, König von Preußen. Über sie zu berichten, wäre kein Problem. Bis ins letzte Detail ist ihr Schicksal von Chronisten festgehalten. Mit ihren "Heldentaten", ihren glanzvollen Festen und ihrer höfischen Prachtentfaltung könnte man ganze Bibliotheken füllen.
Vom Schicksal der kleinen Leute ist dagegen nur wenig bekannt, obwohl sie es sind, die durch ihre tägliche Arbeit die Grundlagen legen für
den Reichtum der gekrönten Häupter. Aus dem Personenregister des Kirchenbuchs von Eutingen wissen wir immerhin soviel:
Was verbirgt sich hinter dieser Eintragung?
Wie viel Not und Bedrängnis muss zusammenkommen, dass eine vielköpfige Familie, der Vater bereits über 45, ihrer Heimat den Rücken kehrt, um im rauen Norden eine neue Existenz aufzubauen?
Beginnen wir unsere Spurensuche bei den materiellen Grundlagen. Als Beruf ist bei Adam Reble Maurer angegeben. Das bedeutet damals eine Tätigkeit als Tagelöhner ... wenn es Arbeit gibt.
Aber kann eine Familie von gelegentlichen Jobs existieren, in einem Dorf von 400 Seelen, dessen Wirtschaft fast ausschließlich auf Landwirtschaft beruht?
Eutingen
an der Enz liegt auf halber Strecke zwischen Karlsruhe und Stuttgart. |
Die strategische Lage ist günstig: in nordsüdlicher Richtung in der Nähe einer Durchgangsstraße und in ostwestlicher Richtung an einer freien Reichsstraße; was damals jedoch eher ein Fluch ist, denn ein Segen.
Denn Verkehrswege sind in erster Linie Heerstraßen. Zwar hat man die durch Mauern und Türme geschützte Stadt Pforzheim vor
Augen, aber die leibeigenen Bauern der Umgebung haben dort in Kriegszeiten kein Zufluchtsrecht. Und so bieten oft nur die umliegenden Wälder
Schutz vor den mordenden und plündernden Söldnertruppen.
Am schlimmsten ergeht es den Menschen während des 30jährigen Kriegs (1618-1648), als die Bevölkerung Badens durch Krieg, Hunger und Seuchen um 2/3 dezimiert wird.
Kaum haben die ausländischen Truppen das Land verlassen, zieht im Verlauf des Orlean’schen Krieges neues Unheil heran. 1689 wird Eutingen, wie auch die Nachbarstadt Pforzheim, von französischen Truppen angezündet und niedergebrannt.
In den Jahren 1691/92 und 1695 wiederum französische Einquartierungen, und auch im spanischen Erbfolgekrieg (1701-1714), wobei 1707 das Kirchenbuch verbrannt wird. Im polnischen Erbfolgekrieg (1733-1738) wird Baden von französischen, russischen und österreichischen Truppen überschwemmt, deren Unterhalt das Land ausblutet und auch der österreichische Erbfolgekrieg (1740-1748) bringt größere Truppeneinquartierungen mit sich. Schließlich der siebenjährige Krieg 1756-1763 in den sämtliche europäische Großmächte verwickelt sind.
Und selbst in „Friedenszeiten“ ist das Leben auf dem Lande ein ständiger Überlebenskampf. Denn Feudalismus bedeutet: Geistliche und weltliche Herren verfügen über den Grund und Boden als das wichtigste Produktionsmittel. Hörige, leibeigene, teils auch freie Bauern bewirtschaften diesen Boden und müssen dafür Abgaben leisten.
Von diesen Abgaben lebt die herrschende Klasse: die Fürsten, Grafen, Freiherren und ihre Erfüllungsgehilfen, die Juristen, Priester, Schreiber, Steuereinnehmer, Spitzel und Waffenknechte.
Abgaben und Leistungen der Bauern für die Feudalherren:
Zehnt = 10 % der Ernte an die Kirche
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Bevölkerungsentwicklung
von Eutingen / Baden 1277 - ca. 50 Einwohner
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Die beste Altersversorgung in der damaligen Zeit ist eine reiche
Kinderschar. Je mehr Kinder, um so mehr billige Arbeitskräfte und
um so größer die Wahrscheinlichkeit, dass einige durchkommen
und später im Alter für die Eltern aufkommen können.
Wenn aber zu viele durchkommen und erwachsen werden, heißt
es für die jüngsten Kinder das Bündel schnüren und
in die Ferne schweifen, denn der elterliche Hof gibt nicht genug her
für
eine wachsende Gemeinschaft.
Denn die Ackererträge sind gering, der Viehbestand ist klein. Man klagt über Missernten, Viehsterben und Bettlerplage, hohe Steuern und Abgaben, sowie über Fuhrleistungen und Hofdienste für diverse weltliche und kirchliche Herren. Der enorme Bedarf an Holzkohle für die Eisengewinnung hat zu einem verantwortungslosen Raubbau geführt und viele Wälder dahin schmelzen lassen.
Die Leibeigenschaft liegt wie eine Fessel über dem Land und hemmt fortschrittliches Denken und Eigeninitiative. Hinzu kommt der religiöse Verfolgungswahn: Wer nicht konform mit der jeweiligen Kirchenlehre ist, muss mit zusätzlicher Verfolgung und Unterdrückung rechnen.
Immerhin wächst auch unter den gekrönten Häuptern jener Zeit der Gedanke, dass es so nicht weiter gehen kann und Reformen dringend notwendig sind.
Ziel dieser „Reformen von oben“ ist es allerdings nicht, die Not der kleinen Leute zu lindern, sondern dem Staat zu mehr Einnahmen und damit mehr Macht zu verhelfen.
Reformmaßnahmen zur Steigerung der Wirtschaftskraft:
- die Einführung der allgemeinen Schulpflicht in Preußen (1717) und in anderen Kleinstaaten; - die Einführung der Kartoffel, die auch auf kargen Böden wächst und die Armut bremst; - vereinzelte Versuche, die Leibeigenschaft und andere Fesseln in der Landwirtschaft aufzuheben, um so die Arbeitslust der Bauern zu steigern; und schließlich - die Versuche, brachliegendes Ödland mit staatlicher Hilfe zu erschließen und urbar zu machen, die so genannte „Binnenkolonisation“. |
Man hat vernommen, wie die Holländer sumpfige Gebiete mit Geschick in wertvolles Kulturland verwandelten und wie ab 1732 in Ostpreußen von
der Pest entvölkerte Gebiete neu besiedelt wurden, durch 15000 Salzburger, die als Protestanten aus ihrer katholischen Heimat vertrieben wurden.
Und so macht man sich auch in Kopenhagen, am dänischen Königshof, Gedanken darüber, wie die zerrütteten Staatsfinanzen saniert werden könnten. Brachliegende Ländereien, z.B. unerschlossenes Moor- und Heideland, gibt es zur Genüge in Jütland und in der Mitte von Schleswig-Holstein, das damals noch zum Königreich Dänemark gehört.
Auch an wohlmeinenden Vorschlägen mangelt es nicht. So überreicht der Volkswirt Johann Heinrich Justi im Jahre 1758 der dänischen Regierung sein „Allerunterthänigstes Gutachten wegen der Anbauung der jütischen Heiden“ und kommt darin zum Ergebnis, dass die Anwerbung von Siedlern sich sogar langfristig rechnet: ... und wenn der König für ihre Sesshaftmachung auch 1 Million Reichsthaler aufbringen müsse, so sei das nicht abschreckend. Man gebe den Kolonisten 10 Freijahre und verlange dann von jeder Familie jährlich 20 r, so sei die Million bereits nach 5 Jahren wieder in der Staatskasse. Innerhalb von 10 Jahren seien 10.000 angeworbene deutsche Kolonistenfamilien unter Leitung eines deutschen Generaldirektors wohl imstande, die jütische Heide zu kultivieren.
Justis Bericht gießt Öl in die Flammen. Noch im gleichen Jahr wird die Kolonisation von der dänischen Regierung endgültig beschlossen,
und zwar für den gesamten Bereich der Cimbrischen Halbinsel - von Jütland bis Holstein. Und so erscheint 1759 in der Reichspostzeitung zu Frankfurt am Main ein verlockendes Angebot:
Auszug der allerhöchsten Verordnungen von Ihro Königlichen Majestät in Dänemark,
wegen der allergnädigst accordirten Freyheiten für diejenige, welche die öde Gegenden in Jütland anbauen, und sich daselbst häuslich niederlassen wollen (...) Die (...) Freyheiten bestehen (...) hauptsächlich in nachfolgenden Punkten:
Colonisten ... ( die sich davon angesprochen fühlen )... haben sich in der freyen Reichs-Stadt Frankfurt am Main anzumelden, um allda (...) hinlänglich belehrt und zu seiner Zeit mit den nöthigen Pässen versehen zu werden. Zur allergnädigst accordirten Vergütung derer Reise-Kosten, sollte bey Anlangung an Ort und Stelle, ein Mann 30 Dänische Rthlr., eine Frauens-Person 20 Rthlr., und ein Kind von 12 bis 16 Jahren 10 Rthlr. erhalten. (...) Frankfurt am Mayn, den 28. May 1759.
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Die Kaufkraft eines dänischen Reichsthalers entspricht
etwa 50 EURO in heutiger Währung. Außerdem wird - wie aus einem
gesonderten Kolonisationsplan hervorgeht - die Errichtung von Häusern
in staatlicher Regie versprochen, die später den Kolonisten zu überlassen
sind.
Die Werbung hat Erfolg und so macht sich im Winter 1760 der erste Treck auf den Weg Richtung Norden. Es handelt sich um 265 Familien mit etwa 1000 Personen aus dem Durlachschen, Württembergischen und Darmstädtischen. Die wenigen Habseligkeiten und die Kinder werden auf Planwagen geladen. Die Erwachsenen gehen meist zu Fuß. Etwa 30 Kilometer pro Tag schafft man auf diese Weise.
Man kann sich unschwer ausmalen, wie beschwerlich die Reise im Winter und bei Kriegszeiten über holperige und gefährliche Straßen gewesen sein muss. Mehr als 4 Wochen rumpelt und wandert man durch die Gegend, ist Wind, Wetter und wechselnd freundlichen Wirtsleuten ausgesetzt. Hinzu kommt die Angst vor Krankheiten. Wie mag wohl jener Familie zumute gewesen sein, die in Frankfurt mit 4 Kindern auf die Reise geht und nur eines davon bis Schleswig durchbringt, weil 3 unterwegs den Strapazen der Reise erliegen.
Auch besteht die Gefahr, in die Kriegstrubel hineingerissen zu werden. Der Reisepass mit dem dänischen Siegel ist zwar eine nette Empfehlung an wohlmeinende Mitmenschen, aber außerhalb des dänischen Staatsgebiets nicht viel wert. Wie froh wird man daher gewesen sein, als am 19. April 1760 schließlich die Türme von Hamburg und Altona am Horizont auftauchen und man von dem Inspektor Stiwitz in Empfang genommen und nach Jütland hinauf geleitet wird.
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